Gedanken zum Land meiner Jugend
Alles Gute zum Geburtstag, vereinigtes Deutschland! 30 Jahre! Irre, wie schnell die Zeit vergeht… Und schon klinge ich wie meine Eltern und Großeltern. Darum vielleicht auch die Überschrift, die mich daran erinnert, dass die Jugend schon ein paar Jahre her ist.
Ich war 17, fast 18, als ich 1988 nach zehn Monaten Schüleraustausch in den USA wieder zurück kam in die oberbayerische Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war. 1988 — das war ein Jahr, das für mein Leben richtungsänderend war. Ich verließ das Gymnasium mit Zeugnissen und Referenzschreiben meiner Lehrer im Gepäck, flog nach Minnesota zu meiner mir bis dahin völlig unbekannten Gastfamilie, und besuchte fortan eine Senior High School. Alles, was mir bis zu diesem Zeitpunkt als “normal” in mein Teenagerhirn programmiert war, wurde plötzlich mit einer anderen Realität konfrontiert. Mein “normal” war nicht mehr normal. Ähnlich musste es wohl 16 Millionen DDR-Bürgern ein Jahr später ergangen sein, als sie nach 40 Jahren real existierendem Sozialismus vor den Trümmern ihrer Nation standen und das neue “normal” der Bundesrepublik erfuhren.
Während meiner Zeit als exchange student wurden mir viele Fragen zu meinem Herkunftsland gestellt. Drei davon kamen immer wieder auf: “What’s the drinking age over there?”, “Is it true that you can drive as fast as you want on the Autobahn?”, und: “Christian, do you think the two Germanys will ever become one again?” Auf all diese Fragen hatte ich ohne zu zögern eine Antwort parat. Speziell zur “deutschen Frage” gab es für mich nur eine mögliche Antwort. Als Teenager, der im geteilten Deutschland und in der Eiszeit des kalten Kriegs groß wurde und mit der Geschichte, die zur deutschen Teilung führte, ausgiebig vertraut war, war es völlig “normal” für mich zu antworten: “Hell no! There’s a reason we have two Germanys. It’s a result of the misguided and criminal form of government my grandparents’ generation chose to support. That’s how it’s going to be.”
Da kam ich also Ende 1988 zurück in den Pfaffenwinkel. Ich hatte ein neues “normal” kennengelernt und es mit meiner bayerischen Provinzrealität für mich einigermaßen in eine neue Balance gebracht. Die paar kognitiven Dissonanzen, die es da gab, sollten mich die nächsten 32 Jahre immer wieder beschäftigen. Doch das war mir ein Jahr vor dem Mauerfall freilich noch nicht bewusst. Dann kam zuerst der 9. November 1989 und schließlich der 3. Oktober 1990. Elf Monate, in denen mir meine oft wiederholte Two-Germanys-Antwort in den Ohren widerhallte und mir klar wurde, wie ahnungslos ich doch war und wie wenig im Leben “normal” ist. Zu meiner Verteidigung sei erwähnt, dass die Welt in meinen ersten 18 Jahren äußerst stabil schien. Alles hatte seine Ordnung. Wie es sich für ein deutsches Leben eben gehört. Die Systeme funktionierten. Schule, Sport, Freunde, Parties, Adria-Urlaub, Ferienjobs. Gottschalk auf Bayern 3, Dalli-Dalli mit Hans Rosenthal, Disco mit Ilja Richter, die Hitparade, Formel Eins, NDW. Friedensbewegung, Wackersdorf-Demos, Pershing 2, Ostermärsche, wehrhafte Demokratie. All das folgte einem nachvollziehbaren Regelwerk.
Und dann, plötzlich, schienen manche Regeln nicht mehr zu gelten. Erst im Unterricht an der amerikanischen High School fiel mir auf, dass die USA eine Constitution haben, die BRD indes keine Verfassung hat, sondern ein Grundgesetz. Ich las nach und lernte, dass die Verfasser ganz bewusst auf den Begriff Verfassung verzichteten. Dies sollte den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und der mit ihm gegründeten Bundesrepublik Deutschland betonen. Die Eltern des Grundgesetzes waren der Auffassung, dass eine neue deutsche Verfassung nur von allen Deutschen oder ihren gewählten Vertretern beschlossen werden könne. Weil jedoch die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone (also, der späteren DDR) und im Saarland daran gehindert waren, mitzuwirken, sollte für eine Übergangszeit ein “Grundgesetz” als “vorläufige Teilverfassung Westdeutschlands” geschaffen werden.
Jetzt, drei Jahrzehnte nach der Überwindung der deutschen Teilung, lohnt es sich, die ursprüngliche Präambel zum Grundgesetz noch einmal auf sich wirken zu lassen. Diese hob nämlich den Willen der Deutschen zur nationalen und staatlichen Einheit hervor:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. [Fettungen von mir]
Als sich abzeichnete, dass es schon sehr bald zu einer Wiedervereinigung kommen würde, durchlief ich die Kollegstufe am Gymnasium. Wir erlebten Geschichte in Echtzeit und wir waren alt genug, die Dimension der globalen, tektonischen Plattenverschiebung zumindest ansatzweise zu verstehen. Die Welt geriet aus den Fugen, unser “normal” begann zu bröckeln wie die Berliner Mauer. All das wirkte bisweilen surreal auf mich. Es entwickelte sich sehr schnell. Viel schneller, als ich es aus den bräsigen 80er Jahren gewohnt war. Klar, es gab die altbekannte deutsche Dialektik. Das linke und das rechte politische Lager zerfleischten sich darüber, wie die Wiedervereinigung denn nun konkret organisiert werden sollte. Otto Schily hob eine Banane in die Kamera. Und die Zonen-Gaby auch. Surreal eben.
Aber niemand — so schien es mir damals und so erinnere ich mich auch noch heute an diese Zeit — niemand stellte die Verfassungsfrage.
Wenn die öffentliche Debatte in Deutschland in unrelgelmäßigen Abständen immer wieder bestimmt wird vom Erstarken nationalistischer Strömungen, von xenophoben Tendenzen, von ungleicher Verteilung von Wohlstand und Fördermitteln — dann stehen zumeist die Bundesländer im Osten im Zentrum der Beobachtung. Dutzende Artikel, TV-Shows, Bücher, Podcasts, etc. widmen sich der Frage, wie vereinigt Deutschland tatsächlich ist. Und warum der Westen den Osten nach all den Jahren immer noch nicht verstanden hat (und umgekehrt).
Es gibt viele mögliche Antworten auf diese Frage. Für mich ist eine davon seit 30 Jahren die gleiche und die vielleicht am meisten unterschätzte:
Weil Deutschland es verpasst hat, sich eine Verfassung zu geben.
Es ist vermutlich ein Geburtsfehler der Berliner Republik, dass einer der Leitgedanken des Grundgesetzes von 1949 der Tagespolitik von 1990 geopfert wurde. Das GG war als Übergangslösung konzipiert. Alle Deutschen sollten an einer gemeinsamen Verfassung mitwirken können, sollte sich die Gelegenheit dazu bieten. Die Chance kam – und blieb ungenutzt. 16 Millionen DDR-Bürgern wurde per Einigungsvertrag einfach das BRD-GG übergestülpt, die Präambel entsprechend umgeschrieben.
Schon als 19-Jähriger fand ich dieses Vorgehen problematisch. Es zeigt sich heute, dass meine jugendliche Skepsis berechtigt war. Egal ob Einzelpersonen oder Gesellschaften und Staaten: Wer sich etwas kategorisch vornimmt (siehe Präambel) und dies fahrlässig oder gar mutwillig nicht einhält, macht sich unglaubwürdig. Die BRD hatte sich ausdrücklich in ihre Gründungsdokumente geschrieben, dass es erst dann eine gemeinsam zu entwickelnde Verfassung geben soll, wenn Deutschland wiedervereinigt würde. Die Bürger der DDR wurden nicht beteiligt, es gibt keine gesamtdeutsche Verfassung, das Grundgesetz gilt leicht modifiziert weiter. Und heute fragen sich viele, warum es noch immer einen Graben zwischen Ost und West gibt.
Ein wenig erinnert mich das an den oft zitierten Spruch von Vernā Myers: “Diversity is being invited to the party. Inclusion is being asked to dance.” Die “lieben Brüder und Schwestern im Osten” wurden zwar eingeladen zur Feier im Westen, Tanzen wollte indes niemand so recht mit ihnen (außer vielleicht auf der Loveparade). Ich kann mich noch gut an die Sprüche meiner Elterngeneration erinnern über die “Ostler”, die nur ihr Begrüßungsgeld abgreifen (womöglich gleich mehrfach! “Sozialschmarotzer!”) und “uns” künftig nur auf der Tasche liegen wollten. Dabei waren gerade sie es — die “Ostler” — die etwas bewundernswertes vollbracht hatten. Etwas, das es nie zuvor in der deutschen Geschichte gegeben hatte: einen Systemumsturz, eine Revolution, ein Schicksal-in-die-eigene-Hand-Nehmen ohne Blutvergießen! Gar nicht “normal” irgendwie.
Der schlaue Hellmuth Karasek hatte Recht, als er im März 1990 für den Spiegel schrieb, dass es offenbar viel einfacher ist “Menschen mies zu machen, die Bananen wollen und die D-Mark und den Opel statt des Trabi”. Weitsicht bewies Karasek schon damals mit einer Prognose. Solange sich Deutschland dem Tanz verweigert, solange die Teilhabe an der Gesellschaft an Bedingungen geknüpft oder eingeschränkt bleibt, solange der “Besser-Wessi” die Interpretationshoheit behält, “wird die Gefahr größer, daß Demagogen Erfolg haben, die den Menschen sogenannte höhere, edlere, nationalere Ziele einreden”.
Daran hat allem Anschein nach auch eine Kanzlerin und ein ehemaliger Bundespräsident, die beide in der DDR aufwuchsen, nichts ändern können. Liebe Brüder und Schwestern in Deutschland, wie wär’s mit ein wenig mehr Tanz? Etwas Bewegung würde uns allen gut tun. Nur so gibt’s inclusion, nur dann schütten wir die leidigen Gräben wirklich zu.